EUROZENTRISMUS

Eurozentrismus kann als ein transversales, doch unsichtbares Paradigma, dass unsere Gesellschaften, soziale Beziehungen und die Wahrnehmung der Welt täglich durchkreuzt, verstanden werden. Seine Stärke und sein Reproduktionspotential liegen in seiner normativen und performativen Kraft. Durch seine ständige Wiederholung ist es eine fest verankerte Norm. In diese Wiederholung wird Europa, vor allem Westeuropa, als historischer, politischer und kultureller Akteur geschaffen und zentriert. Als gedachter Ursprung der Aufklärung, Industrialisierung und der Moderne setzt Europa den Maßstab für moralische, politische, ökonomische, bildungswissenschaftliche und juristische Entwicklungen in der Welt. Zentraler Gedanke des Eurozentrismus ist die Überzeugung, dass die “europäische Gesellschaft” und die “europäische Bevölkerung” an der Spitze von Menschenrechten und Zivilität steht. Diese Perspektive vernachlässigt jedoch komplett die Kehrseite der europäischen Entstehungs- und Gründungsgeschichte: Europäischer Reichtum und die Ausbreitung des Kapitalismus beruht auf dem Kolonialismus, der Versklavung der Bevölkerungen in Ost- und Westafrika, der Expansion von Plantagenökonomien zur Versorgung des industrialisierten Nordens, dem damit einhergehenden Genozid autochtoner Bevölkerung in den Amerikas und der Gründung von Siedlerkolonien. Entlang dieser historischen Prozesse operiert Eurozentrismus auf der Basis von Rassialisierungen und erschafft dabei soziale Hierarchien.

Eurozentrismus kann als ein übergreifendes, aber unsichtbares Paradigma verstanden werden, das unsere Gesellschaften, unsere Beziehungen und unser Denken auf einer alltäglichen Basis organisiert. Seine Stärke und Reproduktionskraft liegt in seiner Unausgesprochenheit und darin, dass er unbewusst reproduziert wird. Eurozentrismus bezieht sich darauf, wie Werte, Wahrnehmungen und Zwangslagen der Gesellschaft durch die Konstruierung Europas als Motor des technologischen Fortschritts, der modernen Zukunft und der Zivilität geprägt werden. Dazu gehört die Konstitution des Eurozentrismus als: (a) der Hauptakteur der Geschichte; (b) der Produzent von wissenschaftlichen und technologischen Erkenntnissen; (c) der Schöpfer universeller ethischer Prinzipien, Normen und Werte und (d) als zentraler Messpunkt für ästhetische Qualität und künstlerischen Ausdruck. Dabei wird die Gründungsgeschichte ausgelassen, dass der europäische Reichtum und die Expansion des europäischen Kapitalismus auf Kolonialismus, Siedlerkolonisation und dem transatlantischen Sklavenhandel beruhen. Dies wird legitimiert durch eine Binärform von Überlegenheit/Unterlegenheit, indem „Europa“ als „überlegen“ und ihre ehemals kolonisierten Territorien als „unterlegen“, als „Europas Exteriorität“ (Dussel 1995; Übers. d. Autor*innen) konstruiert werden. Dies führte zu einem rassifizierten, geschlechtsspezifischen und geografischen System sozialer Hierarchien (Quijano 2006), das die Arbeitsteilung im Kapitalismus regelte und die Kontrolle der rassifizierten/geschlechtsspezifischen Bevölkerung durch physische Gewalt, einschließlich Völkermord, und epistemische Gewalt erforderte, z. B. durch Verleumdung des historischen Widerstands der unterdrückten Bevölkerung und ihrer Handlungsfähigkeit, sowie durch Kapitalisierung des Wissenstransfers aus anderen Regionen nach Europa (z. B. durch Migration, Ausbeutung, Wissensdiebstahl und Brain-Drain aus anderen Regionen) bis heute. Dies führte auch zu einer Exteriorität innerhalb Europas (Lewis 2000; Gutiérrez Rodríguez 2010), die Schwarze und BPoC rassifizierte Europäer*innen als Nicht-Europäer*innen kennzeichnete (El Tayeb 1999; 2011) und Europa als hauptsächlich vom Protestantismus und Katholizismus geprägt darstellte, wobei jüdische, muslimische und christlich-orthodoxe Vergangenheit und Traditionen in Europa marginalisiert wurden (siehe z. B. Attia/Popal 2016). Infolgedessen werden viele in Europa lebende Personen nicht als „europäisch“ angesehen, obwohl sie einen europäischen Pass besitzen und/oder auf dem Kontinent geboren sind (siehe z. B. Brah 1996; Gutiérrez Rodríguez 1999). Dies ist eines der vielen Paradoxe, die den Eurozentrismus so mächtig und zu einem potenziellen Schauplatz von Rassismus machen. Der Eurozentrismus formt unseren Menschenverstand und wird zu einer normativen Matrix, die unser Verhalten, Denken und unsere sozialen Beziehungen innerhalb und außerhalb Europas bestimmt. Dies führt zu struktureller, physischer und symbolischer Gewalt an Körpern, Identitäten, Geist und Seelen, die außerhalb dieser Matrix konstruiert sind.

In Deutschland ist das Hochschulwesen noch immer zutiefst von postkolonialen Dynamiken der Inklusion und Exklusion geprägt, da “Universitäten die inhärenten sozialen Ungleichheiten innerhalb des Nationalstaates widerspiegeln [und] privilegierte Orte für die Reproduktion der weißen nationalen Eliten [sind]” (Gutiérrez Rodríguez 2015: 3; Übers. d. Autor*innen). Wie Gutiérrez Rodríguez feststellte, hatten im Jahr 2012 nur 6 Prozent aller Professuren in Deutschland eine Migrationsbiografie (während im selben Jahr die Bevölkerung mit Migrationsbiografie 20 Prozent betrug, BAMF 2012: 135). Davon waren 80 Prozent weiße Europäer*innen und 43 Prozent entweder Schweizer*innen oder Österreicher*innen (Gutiérrez Rodríguez 2015: 4). Während die erste Zahl eine Vorherrschaft der kulturellen und rassialisierten Weißheit belegt, weist die letztere auf die Sprache als ein mögliches Instrument zur Auswahl der Bildungselite hin. Institutioneller Rassismus, so Gutiérrez, „wird durch subtile institutionelle Praktiken, die den Zugang der weißen, national wohlhabenden Bevölkerung neu geschaffen […] und [wird] insbesondere durch Alltagspraktiken und Vorstellungswelten erlebt” (ebd: 5; Übers. d. Autor*innen).