NEOLIBERALE COMPLIANCE
Um Compliance im Bildungskontext zu verstehen, ist es wichtig, den Raum zu verstehen, den Bildung erzeugt und in dem Bildungspraxis stattfindet. Hochschulinstitutionen sind von vielfältigen Unterdrückung- und Ungleichheitssystemen geprägt. Diese Systeme sind miteinander verzahnt und stehen in Beziehung zu einer dominierenden Wahrnehmungsweise wie beispielsweise dem Eurozentrismus (siehe Tool) oder Regierungsformen wie der neoliberalen Gouvernementalität. Individuen und soziale Gruppen sehen sich dort mit unterschiedlichen Formen von Diskriminierung konfrontiert. Infolgedessen wird Hochschule aufgrund von individuellen und kollektiven Erfahrungen oftmals als ungesunde und feindselige Umgebung wahrgenommen. Die repetitive Natur der alltäglichen Gewalt erzeugt eine intersektionelle Ermüdung – eine Erschöpfung, die durch den täglichen Kampf mit organisatorischen und zwischenmenschlichen Barrieren im Hochschulbereich ausgelöst wird. Ein Teil der Studierenden vertreten die Meinung, dass Compliance die beste Strategie zur Überwindung dieser Barrieren und der beste Schutz vor Schaden ist. Die Strategie des Umgangs mit und des Navigierens durch ambivalente Forderungen und Belohnungen im Kontext des institutionellen Rassismus im Hochschulbereich werden wir folglich neoliberale Compliance nennen. Dieser Begriff impliziert, diskriminierende Erfahrungen zu individualisieren, diese zu minimieren und/oder „weglachen“ und zu versuchen, sich an die normativen Erwartungen anzupassen. Neoliberale Compliance beruht auf der Überzeugung, dass individuelles Bewältigungsstrategien rassistische Gewalt reduzieren kann. Diese Sichtweise erschwert eine befreiende und emanzipatorische Praxis, die auf politische Organisierung (siehe Migra*BPoC Widerstand), kollektive Antworten sowie Aktionen gegen Rassismus im Hochschulbereich setzt.
Das Konzept der neoliberalen Compliance entstand aus zwei Gruppengesprächen mit Migra*BPoC-Studenten, Doktorand*innen und Postdoktorand*innen in Gießen, Deutschland. Nach dem ersten Workshop entstand das Gefühl, dass viele Studierende nur widerwillig über Ausgrenzungsmechanismen sprechen wollten, denen sie an der Hochschule ausgesetzt waren. Sie bezeichneten dieses Gefühl als „Stimmungskiller“. Eine kleinere Gruppe vertrat die Ansicht, dass es wichtig sei, diesen Wunsch anzuerkennen und zu respektieren, gleichzeitig aber auch verstehen zu wollen, woher er komme. Dem zweiten Workshop lag ein anderer Ansatz zugrunde. Die Teilnehmenden fühlten sich wohl dabei, ihr Gefühl des Alleinseins und der Überwältigung zu teilen, und erklärten ihren Wunsch, in einem System, das sie entfremdet, keinen Ärger verursachen zu wollen. Auf der Grundlage der Äußerungen der Teilnehmenden der beiden Workshops identifizierten sie die wichtigsten Aspekte für Studierende mit Migrationsbiographie in Gießen, indem sie sie miteinander in Beziehung setzten und ihre konzeptuelle Bedeutung durch eine Mindmap-Übung erfassten. Es wurden fünf Themen identifiziert: (a) Müdigkeit; (b) Angst vor dem Nicht-Bestehen; (c) Unsicherheit in Bezug auf Erwartungen; (d) Unzufriedenheit über die Doppelmoral an der Universität; und (e) Ernüchterung über die mangelnde Veränderung der Institution und ihrer persönlichen Interaktionen. Die Migra*BPoC-Studierenden entwickelten Strategien von Bewältigung, Herausforderung, Bestreiten und Widerstehen. Insbesondere die Strategie der neoliberalen Compliance ergab sich als eine Möglichkeit, sich in diesen verschiedenen Ebenen zu bewegen, indem man sich auf die Selbstfürsorge konzentrierte.
So entsteht neoliberale Compliance als ein Konzept, das individuelle Strategien der Migra*BPoC-Studierenden und -Lehrenden zur Bestätigung der gegebenen Strukturen und Dynamiken definiert. Als solche sind sie nicht darauf ausgerichtet, diskriminierende Praktiken zu ändern oder zu kritisieren. Vielmehr unterwerfen sie sich den institutionellen Regeln und Erwartungen, um die negativen Auswirkungen der Diskriminierung auf das persönliche Wohlbefinden zu verhindern oder zu verringern. Migra*BPoC Studierende an Hochschulen sind somit aktiv Handelnde, die auf individueller Ebene versuchen, in den institutionellen Zwängen zu bestehen. Neoliberale Compliance kann somit als ein psychosozialer Mechanismus zum Schutz des persönlichen Wohlergehens verstanden werden.